Berlin – Erlebte Geschichte

Es war Montag, der 05.09. Die Tutorenkurse EN2 und ge3 befanden sich unter organisatorischer Leitung von Herrn Milde, Frau Heck und Frau Schröder auf ihrer Kursfahrt nach Berlin. Die Busfahrt dauerte 3 Stunden und erfolgte ohne Komplikationen.

Der Montag war nicht nur unser Ankunftstag, sondern diente auch für uns zur Orientierung in der Hauptstadt. So suchten wir zunächst klassisch-touristische und prägende Gegenden der Stadt auf. Das komplexe Nahverkehrsnetz - bestehend aus Bussen, U- und S-Bahnen, welches durchaus seine Zeit der Einarbeitung fordert - ermöglichte uns hierbei, schnell und sicher an unsere Ziele zu kommen. Dazu zählten unter anderem das Ende des 18. Jahrhunderts erbaute Brandenburger Tor oder das Reichstagsgebäude. Letzteres wurde Ende des 19. Jahrhunderts errichtet und diente bereits dem deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik als Sitz des Reichstages. Ab der schicksalshaften Nacht des Reichstagsbrandes verlor das Gebäude bis 1999 seine Funktion als Parlament. Heute tagt hier wieder der Deutsche Bundestag und stellt damit Berlin weiterhin in das Zentrum deutscher Politik.

Zuletzt suchten wir das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ auf. 2005 eingeweiht, dient es als Denkmal für die sechs Millionen im Holocaust getöteten Juden.

Geschichte, in ihrer Scheußlichkeit und in ihrer Größe, ist in Berlin „präsenter“ als in anderen Städten. Überall erinnern Denkmäler an vergangenes Leid, an besondere Leistungen, an außerordentliche Menschen. Berlin ist eine Stadt von landes- und weltgeschichtlichen Umbrüchen. Sie hinterließen ihre Spuren auf den Straßen und in den Menschen, eine Tatsache, die mir in den nächsten Tagen noch deutlicher bewusst werden würde.

Der Gedanke „Geschichte in Berlin“ scheint mir für die gesamte Kursfahrt prägend gewesen zu sein. Dienstagvormittag besuchten wir beispielsweise das Spionage-Museum, das im Jahr 2015 eröffnet wurde und sich zur Aufgabe gemacht hat, über Spionage im Laufe der Geschichte zu bilden und aufzuklären. So erzählte man uns von Legenden wie Mata Hari – einer Tänzerin und Doppelagentin im Ersten Weltkrieg, die sowohl für Deutschland als auch für Frankreich spioniert hatte und letztendlich noch vor Ende des Krieges überführt und von den Franzosen hingerichtet worden war.

Wir erfuhren von der „Enigma“, einer Maschine, mit der die Nazis ihre Botschaften im Zweiten Weltkrieg verschlüsselten und wir erfuhren vom Briten Alan Turing, dem es gelang, diese Verschlüsselungen zu knacken und so unzählige Menschenleben zu retten.

Ein beachtlicher Teil der Ausstellung war dem Kalten Krieg gewidmet, der Berlin damals seine Reputation als „Hauptstadt der Agenten“ einbrachte. Ein reißerischer Titel, der Assoziationen zu Filmikonen wie James Bond weckt, auch wenn die Realität wohl weitaus weniger spannend und um einiges trauriger war. Auf der einen Seite im Osten: der KGB und die Stasi; auf der anderen Seite im Westen: der BND und die CIA. Beide Seiten überwachten sich gegenseitig und natürlich auch die eigene Bevölkerung. Vor allem kam es in der DDR vermehrt zur Bespitzelung und Denunziation. Verwanzte Wohnzimmer, an Mantelknöpfen versteckte Infrarotkameras – der Erfindungsreichtum und die technologische Raffinesse der Geheimdienste wirkte auf uns alle auf eine makabre Art und Weise beeindruckend. Makaber, weil diese Geräte natürlich nicht gebaut wurden, um für ein Publikum besonders aufregend zu sein, sondern, da durch sie in das Privatleben der Menschen eingegriffen wurde, durch sie politische Konflikte beeinflusst wurden. Hierbei muss angemerkt werden, dass Spionage und Geheimdienstarbeit heutzutage wahrscheinlich noch verbreiteter ist als damals, auch wenn sie nicht mehr so „charmant“ geschieht, wie durch eine im Lippenstift versteckte Kamera.

Am Nachmittag machten wir eine Tour durch das 2008 in Berlin eröffnete Wachsfigurenkabinett „Madame Tussauds“ und konnten Berliner Geschichte und Kultur im eher lockeren Stil erleben. So luden uns Wachsnachbildungen von Berliner Originalen wie Marlene Dietrich, Hildegard Knef und Nina Hagen dazu ein, unzählige Bilder mit ihnen zu machen. Dargestellt waren auch intellektuelle Größen wie Shakespeare, Sigmund Freud und Bertolt Brecht, der in Berlin mit der „3 Groschen-Oper“ seinen größten Erfolg feierte. Ebenso waren Politiker wie John F. Kennedy, Angela Merkel und Walter Ulbrich zu finden, deren Verbindungen zu Berlin wohl auf der Hand liegen.

Einen interessanten und kontrovers diskutierten Platz in der Ausstellung erhielt Adolf Hitler. Hinter Glas so platziert, dass man kein Foto mit ihm machen kann – im Übrigen auch nicht darf – stellt die Figur seine letzten Momente im Führerbunker dar und kontrastiert mit der nur wenige Meter entfernt stehenden Nachbildung von Winston Churchill. Sicher wirkt der Diktator ein wenig deplatziert in einer Ausstellung, in der auch Taylor Swift und E.T. zu finden sind. Doch noch heute findet man in einigen Berliner Fassaden Einschusslöcher von den Straßenkämpfen, die Vergangenheit bleibt präsent und jeder Versuch sie aufzugreifen, sie zu verarbeiten und ihr eine neue Form zu geben, scheint mir zunächst einmal legitim. Die Figur Hitler lebte von einer überhöhten Selbstdarstellung. Ihm diese Inszenierung zu zerschlagen, seine letzten Augenblicke auf Erden als erbärmlich und ganz und gar nicht triumphal darzustellen, ist eine Form von künstlerischer Positionierung zum Nationalsozialismus, die man durchaus respektieren sollte.

Der Mittwoch begann mit einer Führung durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen. Hier befand sich zu Zeiten der DDR eine Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit. Besonders hierbei war, dass unsere Führung nicht von einem studierten Historiker oder Ähnlichem angeleitet wurde, sondern von jemandem, der die grausamen Strukturen der DDR am eigenen Leib erfahren hatte. Der 1946 geborene Karl-Heinz Richter verhalf 17 seiner Freunde und Bekannten zur Flucht, bis er bei seiner eigenen Flucht gefasst wurde und dann in Untersuchungshaft geriet. Er erzählte uns von Monaten der Erniedrigungen, psychologischer Folter und Isolation, von einem Gefängniskomplex, der jegliche Menschlichkeit entbehrt. Später geriet seine Frau ebenfalls in Haft und dies aus keinem anderen Grund, als dass beide verheiratet waren. Dort wurde sie mehrmals vergewaltigt. Über weitere Details möchte ich an dieser Stelle nicht schreiben, doch sei so viel gesagt: Hier wurden Menschenleben zerstört. Die meisten Häftlinge haben ihre Zeit in Hohenschönhausen überlebt, wenn auch einige Hundert an den menschenverachtenden Umständen der Haft gestorben sind. Doch was den Überlebenden hier widerfahren ist, tragen sie für den Rest ihres Lebens mit sich.

All die Eindrücke in der Haftanstalt, das berührende Schicksal Richters ließ niemanden kalt. Nach einer Stunde verließen wir bereits wieder die Gedenkstätte, einige wischten sich die Tränen aus den Augen, alle blieben still. Man kann nicht viel zu dem hier geschehenen menschlichen Leid sagen, uns bleibt nur zu hoffen und auch dafür einzutreten, dass sich das nie wiederholt.

Nach einem so emotional aufgeladenen Erlebnis tat es jedem gut, die Gedanken auf anderes zu richten, beispielsweise auf die Stadt, die wir besuchten. So unternahmen wir am Mittwochnachmittag einen Stadtrundgang. Wir standen am Alexanderplatz, liefen an der Spree entlang, gingen „Unter den Linden“ und besichtigten die Anfänge der Stadt in der historischen Stadtmitte. Das Wort Anfänge müsste hier in Anführungszeichen gesetzt werden, denn die meisten Bauten von damals wurden im Zweiten Weltkrieg in Bombenangriffen zerstört.

 Wenn ich von „präsenter Geschichte in Berlin“ spreche, meine ich genau das: Viertel, die eigentlich sehr alt sind, dann zerstört und durch sozialistische Bauten ersetzt wurden, die man schließlich mit der Wende wieder abriss. Ein Beispiel dafür ist der „Palast der Republik“ – Kulturzentrum im sozialistischen Berlin –, an dessen Stelle zuvor das Berliner Stadtschloss stand. Man ersetzte es nach dem Krieg, denn ein Schloss im Herzen der Hauptstadt entsprach nicht den Idealen der DDR. Nachdem man den Palast abgerissen hat, steht hier heute wieder das Stadtschloss, mit der Funktion eines Kulturforums.

Der ständige Wechsel von Gebäuden aus der Kaiserzeit, DDR-Bauten, modernen Anlagen und Baustellen lässt die Stadt gewissermaßen über sich hinauswachsen. Hier steht die Vergangenheit mit der Gegenwart neben der Zukunft. Und wenn all diese Geschichte auf den Straßen – beispielsweise die Überreste der Berliner Mauer – Berlin zu einer historischen Stadt machen, dann wirkte sie doch auf mich auch wie eine ahistorische Stadt. Eine Stadt, die außerhalb einer geschichtlichen Ordnung steht, da sie gleichzeitig in Vergangenheit und Zukunft verankert ist und sich selbst völlig genügt.

An dieser Stelle ist es passend zu erwähnen, dass wir trotz unseres gut gefüllten Programms auch reichlich Freizeit hatten, demnach die Möglichkeit, Berlin von anderen, lokal-kulturell geprägten Seiten zu entdecken. Das Erkunden ikonischer Berliner Gegenden war uns nämlich genauso wichtig wie das Aufsuchen eher klassischer Bildungsstätten.

Dem Bildungsauftrag wurden wir dann auch am Donnerstag wieder mit einem Besuch des Museums für Naturkunde gerecht. Dieses gleicht selbst schon einer Sehenswürdigkeit, denn es wurde bereits 1889 eröffnet und ist im Besitz von über 30 Millionen Objekten. Die Ausstellungen sind beeindruckend. Sie erzählen von einer Zeit, in der an Berlin nicht zu denken war, einer Zeit noch vor der Menschheit. Die riesigen Dinosaurierskelette und die Fossilien erinnern uns daran, dass – so bewegend unsere Geschichte auch sein mag – davor noch so viel mehr war. Vor Millionen Jahren war der Erdfleck, den wir Berlin nennen, noch von einer völlig anderen Art von Leben bevölkert. Vor Milliarden Jahren gab es nicht einmal die Erde, sondern nur von Sternennebel gefüllte Unendlichkeit. Sobald ich das wirklich realisiert hatte, sah ich das, was ich in den vergangenen Tagen gelernt hatte, in ganz anderen Relationen.

Es war Freitag, der 9.9., und die Tutorenkurse EN2 und ge3 befanden sich im Bus auf dem Weg zurück nach Schwerin. Ich kann – denke ich – für jeden meiner Mitschüler sprechen, wenn ich sage, dass Berlin eine beeindruckende Stadt ist, die man in ihrer Gänze unmöglich in nur 5 Tagen erleben kann. Und selbst, wenn man in Berlin schon mehrere Jahre gelebt hat, ist diese Stadt kaum zu begreifen. Am Ende bleiben also die gesammelten Eindrücke, Bilder – mal mehr, mal weniger touristisch anmutend – und die vergangene Zeit, die jetzt auch Teil Berliner Geschichte geworden ist und für die ich sehr dankbar bin.

Schulreporter Jan